Volker Gäckle Akkreditierungsordner

IHL-Newsletterbeitrag

Wieviel Moral verträgt der Mensch…?

„Wer Gott fahren ließ, hält umso strenger am Glauben an die Moral fest“

                                                   Friedrich Nietzsche

Warum haben wir uns an der IHL im vergangenen Jahr Zeit für eine wissenschaftliche Tagung zum Thema des Moralismus genommen? Gibt es nicht schon genug Debatten dazu?

Die einen wissen gar nicht, wovon bei dieser Diagnose eines Moralismus in der Gesellschaft die Rede ist. Es gibt doch Meinungsfreiheit, jeder kann alles sagen und wo wirklich Sachverhalte oder Personen unter Bezug auf moralische Kategorien bewertet werden, dort wird es seine Berechtigung haben.

Die anderen wiederum sehen überall Moralismus: Aus ihrer Sicht gibt es „verengte Debattenräume“. Überall lauert ein „Ismus“ (Rassismus, Sexismus, …), eine vorgeworfene Feindlichkeit (Transgenderfeindlichkeit, Homophobie) oder Leugnung (Klima-/Coronaleugner, etc.), die einem vorgeworfen werden können. Die Meinungsfreiheit ist demzufolge zwar juristisch vielfach noch gegeben, aber Menschen, die eine vom „Mainstream“ abweichende Position vertreten, müssen mit mehr oder weniger harten Konsequenzen bis in ihr soziales oder berufliches Leben hinein rechnen.

War also von beiden Seiten nicht alles zum Moralismus gesagt? Warum noch einmal verschiedene Wissenschaftler aus Sozialwissenschaften und Theologie damit für ein Symposium beschäftigen?

Vom Wert theologischer Perspektiven

Schon die letzte Formulierung zeigt, warum wir glauben, dass das IHL-Symposium notwendig war und das jetzt dazu erschienene Buch so wichtig ist: Die Theologie war dieses Mal mit im Spiel, die sich bisher zu diesem Phänomen kaum geäußert hat. Denn wir waren freilich nicht die ersten, die den Moralismus beobachtet haben. In den letzten Jahren gab es schon einige Gesellschaftsdiagnosen, zum Teil auch Publikationen auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Sie zeigen, dass die Wahrnehmung eines zunehmenden Moralismus nicht völlig aus der Luft gegriffen sein kann. Aber mit unseren nun auch veröffentlichten Suchbewegungen kamen wahrscheinlich zum ersten Mal in dieser Breite auch theologische Perspektiven ins Spiel.

Uns hat die Frage, wie sich „die“ Theologie zur Moral (oder zum Moralismus) verhält, auch deshalb interessiert, weil das ein klassischer Vorwurf an Theologie und Kirche war: Ihr seid zu „moralinsauer“, bei euch darf man dieses und jenes nicht. Der Vorwurf wird zwar immer noch erhoben, aber heute haben sich die sanktionierten Themen geändert. Außerdem haben sich die Kompetenzen zur Thematisierung gewandelt: Andere gesellschaftliche Player erklären, was man tun und lassen soll, die Kirchen hängen sich da allenfalls an oder versuchen, in der Hoffnung verlorene Relevanz zurückzugewinnen, die Forderungen der anderen noch zu überbieten.

Als Herausgeber und Autoren des Bandes sind wir davon überzeugt, dass die Bedeutung der Theologie sich nicht darin erschöpft, Schrittmacher oder Anhängsel von Moral(ismus) zu sein. Sie kann vielmehr wichtige Deutungsschlüssel zum Verständnis unserer (spät-)modernen Konstellation liefern und auch inhaltlich eigene Akzente setzen. Vor allem mit theologischen (aber auch mit soziologischen oder philosophischen Perspektiven) lässt sich die geistesgeschichtliche Entwicklung Europas verstehen, die in der späten Moderne erst ein Sinnvakuum hervorbrachte und dann ideologische Lückenfüller, die umso mehr das moralische Terrain für das „gute Leben“ absteckten.

Der „ausgrenzende Humanismus“

In meinen Augen ist deshalb ein wesentlicher theoretischer „Untergrund“ für heutige Phänomene des Moralismus das, was der kanadische Philosoph Charles Taylor den „ausgrenzenden Humanismus“ nannte. Er meinte damit im Rahmen seines epochalen Werks A Secular Age aus dem Jahr 2007 (auf deutsch erschienen: „Ein säkulares Zeitalter“) eine mit der Neuzeit sich sukzessive durchsetzende Sichtweise vom Menschen, die diesen nur noch über die Immanenz bestimmt und ihn gegen die Transzendenz „abdichtet“. Alle übernatürlichen Sinnbezüge werden in diesem Humanismus ausgegrenzt, sind zumindest nicht die Folie, auf der das Leben (und selbst religiöse Erlebnisse) gedeutet werden. Alle Beobachtungen dazu, dass der Mensch über sich selbst „hinausweist“, werden als „teleologisch“ abqualifiziert, die neuen Heilsversprechen bleiben rein innerweltlich bestimmt. In naturwissenschaftlicher Hinsicht, so könnte man Taylor ergänzen, wird der Mensch im Wesentlichen auf Biochemie, also Materie, reduziert, in sozialwissenschaftlicher Hinsicht auf ein funktionales Rädchen-im-Getriebe-Dasein, für das er zugleich in immer stärker verwalteten (und heute auch: digitalisierten) Gesellschaften verplant wird.

Es ist ein Trend, der in den großen Ideologien des 20. Jahrhunderts beginnt und sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Deshalb erscheint die Erklärung des heutigen Moralismus, dass dieser primär „links“ sei, auch zu kurz gegriffen. Er ist vielmehr sehr wandlungsfähig. Es stimmt freilich, dass viele heutige Entscheidungsträger in Politik und Medien im Geiste der 1968er sozialisiert wurden und folglich einen im Wesentlichen links-grünen Moralismus befeuern. Der „ausgrenzende Humanismus“ als tieferer kultureller Untergrund kann aber genauso „rechte“ oder „liberale“ Früchte hervorbringen.

Weltanschauliche Voraussetzungen

Die Gemeinsamkeit vordergründig divergierender politökonomischer Konzepte, etwa zwischen einem sozialistischen Kollektivismus und einem (neo-)liberalistischen Individualismus – um nur die Idealtypen zu nennen – liegt im „ausgrenzenden Humanismus“, den beide zur Voraussetzung haben. Für kommunistische Gesellschaftsmodelle und alle moderateren Spielarten der „sozial gerechten“ Umverteilung oder identitätspolitischen „Gleichheit“ wurde oft gezeigt, dass sie aus rein innerweltlichen Heilsversprechen herrühren, die die Transzendenz bewusst kappen. Aber auch die verschiedenen Spielarten des Liberalismus, mit ihrem Vertrauen in die wohlstandsgenerierende und -sichernde Kraft des Marktes, verstehen Fortschritt und Wachstum meist innerweltlich. Bezugnahmen auf Höheres sind nur dann erwünscht, wenn sie im Ganzen wie beim Einzelnen Leistung steigern, nicht etwa dann, wenn höhere, etwa göttliche Gebote dem maßgeblich handlungsleitenden Prinzip der Gewinnmaximierung entgegenstehen.

Beide großen Optionen und alle mittleren Positionen im Spannungsfeld zwischen Kollektivismus und Individualismus sind auf Basis des sie fundierenden ausgrenzenden Humanismus dazu versucht, einen Ersatz für die fehlende Transzendenz in der Immanenz zu konstruieren. Auch der Transhumanismus könnte als Versuch in diese Richtung gedeutet werden, wobei das hier nicht weiter ausgeführt werden kann.

Ich habe an anderer Stelle versucht, dieses kompetitive Ringen des Säkularismus mit der christlichen Tradition zu interpretieren und mich dabei auf die Theorie mimetischen Begehrens nach René Girard bezogen: Die spätmodernen Gesellschaften müssen nicht nur die gleichen Möglichkeiten der Nächstenliebe generieren, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, sondern sie müssen die „christliche“ Geschichte im Narrativ von der eigenen „Gutheit“ darin übertreffen.[1] Dazu gehören folgerichtig Anklagen gegen die „Tätergeschichte“, denn sie ermöglichen es, sich selbst in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.

So sind wir heute also alle die „Guten“ und wir bestreiten der Liebeslehre des Neuen Testaments, deren originäres „Patent“ auf die Caritas. Wir können sie selbst, und wir können sie besser, ist die Botschaft des säkularen „ausgrenzenden Humanismus“.

Komplexe der Übermoral

Im Gefolge dessen entstehen „Komplexe der Übermoral“, wie ich sie nenne. Allerdings genügt es nicht, diese aufzuzählen (oder sich permanent über sie zu beschweren), sondern man muss sie zunächst möglichst präzise beschreiben. Aus genau diesem Grunde haben Detlef Hiller und ich als Herausgeber des entstandenen Tagungsbandes den Begriff der „Morphologie“ gewählt (von griech. μορφή/morphē = Gestalt). Wir wollten zunächst verstehen, was diese spezifische „Gestalt“ oder „Form“ solcher Komplexe der Übermoral ist. Dazu gehört auch, sich darüber klar zu werden, wo „legitime“ moralische Überlegungen enden und Komplexe der Übermoral beginnen.

Denn es wird einer konstruktiven christlichen Perspektive nicht darum gehen können, Verdienste um Achtsamkeit und Verantwortung für ein inklusives Miteinander per se als „Moralismus“ zu diskreditieren. Man muss also genauer hinschauen, um ein Bild des Moralismus zu bekommen, am besten auch in einzelne Themenfelder. Genau das haben wir auf dem IHL-Symposium 2022 getan und genau dazu sind jetzt auch die entsprechenden Artikel erschienen: Sie beziehen sich auf Analysen zu identitätspolitischen Moralisierungen im Zusammenhang mit Kultur und Gender, auf moralisierende Aspekte im interreligiösen Dialog mit dem Islam, auf die ideologische Seite der Klimafrage, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir glauben, dass wir damit einer interessierten Öffentlichkeit hilfreiche Analysen vorlegen können.

Das nimmt dem interessierten Leser im Einzelfalle nicht die Entscheidung, wo es die Sache wert ist, sich „quer“ zum moralischen Mainstream eines Themas zu positionieren, aber es hilft zum Verständnis des Phänomens Moralismus und seiner Funktionsweise. Dabei wäre Kritik auch kein Selbstzweck, sondern sie benötigt selbst konstruktive Horizonte. Auch dazu gibt es aus der Sicht einer vitalen christlichen Spiritualität Anregungen in unserem Band. Ein Band übrigens, der mit den Autoren Roland Deines, Kai Funkschmidt, Detlef Hiller, Gerold Lehner, Christoph Raedel und Henning Wrogemann eine ganze Reihe interessanter und sachkundiger Denker versammelt.

[1] Vgl. Daniel Straß/Miriam Heffter, Philosophischer Neopaganismus. Von der modernen „Sorge um die Opfer“ bei René Girard, in: Harald Jung/Jürgen Schuster/Volker Gäckle (Hrsg.): Europa, wie hältst du’s mit der Religion? Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft, Berlin 2020, 137–154.

Prof. Dr. Daniel Straß ist Professor für Erziehungs­wissenschaft an der IHL.

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