Wie ein Hund zur Weihnachtsfreude findet
Eine Weihnachtsgeschichte von Roland Deines
Mit einem lauten Knurren sprang Kelbo auf. Die scharfen Ohren des palästinischen Hütehundes lauschten in die kalte klare Nacht hinein. Kelbo war nicht ängstlich, sondern ein erfahrener Hütehund, der schon manchen Kampf mit Wölfen und Luchsen bestanden hatte. Nein, er fürchtete sich nicht, und dennoch war ihm unheimlich zu Mute. Seine Nackenhaare sträubten sich und es war nicht zu erkennen, ob aus Angst oder um dem unsichtbaren Gegner Furcht einzujagen. Den Mund aufgerissen, die scharfen Zähne zeigend, starrte er in die dunkle Nacht. Es war kein Wolf, der um die Schafe schlich, auch kein Luchs. Es war etwas anderes, unheimliches, mehr zu ahnen als zu hören und zu sehen. Und er spürte, wie es näher kam. Er bellte laut in die Richtung, aus der er meinte, dass es kam.
„Kelbo, was ist los“ – so rief, verschlafen und ein wenig mürrisch, Jonatan, der junge Hirte. Er war noch nicht lange mit den Hirten unterwegs mit seinen 12 oder 13 Jahren. Die kalten Nächte auf dem freien Feld war er nicht gewohnt und darum schlief er schlecht auf dem harten Boden. Das Schaffell wärmte zwar von unten, doch das harte, steinige Erdreich war dennoch zu spüren. Die wollene Decke vermochte zwar die ärgste Kälte abzuhalten, aber nicht den kalten Wind, der nachts oft über die Felder blies und auch nicht die feuchte Nässe des morgendlichen Taus, der die Glieder steif machte. Doch gerade hatte er geschlafen, es war warm unter seiner Decke und ein schöner Traum hatte sich seiner zu bemächtigen begonnen. Doch Kelbo hörte nicht mehr auf zu bellen und auch Jonatan merkte, dass etwas Ungewöhnliches im Begriff war zu geschehen. Er richtete sich auf und starrte in die Richtung, in die Kelbo wie wild bellte, jedoch ohne sich von der Stelle zu rühren. Auch die anderen Hirten, wettergegerbte, zähe Männer, die das rauhe, harte Leben der Hirten gewöhnt waren, waren inzwischen wach geworden.
Sie horchten angestrengt in die dunkle Nacht hinein und vermeinten, über dem wüsten Bellen Kelbos so etwas wie ein Singen zu hören. Ein Singen wie von weit her, als ob dort auf den Hügeln, wo die kleine Stadt Betlehem sich unter dem nächtlichen Sternenhimmel duckte, ein riesiger Chor von Leviten sänge. Immer bestimmter hörten sie dieses Singen, immer weniger war von Kelbos Bellen zu hören, obwohl inzwischen auch die Schafe angefangen hatten zu blöken und ängstlich zu mäen. Die Töne kamen aber nicht von Betlehem, sondern direkt aus dem Himmel über ihnen. Sie richteten ihre Blicke empor. Sie meinten zu träumen, obwohl sie doch ganz gewiss wach waren. Helle Lichter kamen vom Himmel herab auf sie zugeflogen. Je näher dieso Lichter kamen, desto heller wurde das Singen. Sie begriffen nicht, was mit ihnen geschah, und doch war ihnen, als wäre um sie herum nicht länger Nacht, sondern lauter Himmel. Und inmitten dieses Himmelsglanzes hörten sie eine Stimme reden, die von einem Kind sprach, das in dieser Nacht geboren worden sei. „Euch ist heute der Retter geboren, der Messias Gottes, in der Stadt des Königs David, in Betlehem.“ Das hörten die Hirten inmitten des himmlischen Glanzes und noch manches gute Wort mehr. Kelbo aber verstand die Himmelsworte nicht und knurrte noch immer drohend, als sich der Lichtglanz schon wieder von der Erde erhob und langsam, wie er gekommen war, zurückkehrte. Nur von ferne war noch das Singen zu hören, letzte Töne voller Süße und Sehnsucht nach einem heilen Leben.
Kelbo umkreiste die Herde, trieb die aufgeregt umherlaufenden Schafe zusammen, die schon wieder anfingen, sich niederzulegen. Auch Kelbo wollte weiterschlafen, aber da rief Jonatan: „Auf Kelbo, wir müssen rasch nach Betlehem und ein Kind suchen. Es ist der Retter und die Engel haben uns von ihm erzählt.“ So aufgeregt Jonatan war, so wenig angetan war Kelbo. Ein Kind suchen, mitten in der Nacht. Ein „Retter“ – wie sollte das gehen? Auf Kinder musste man aufpassen, auch er hatte auf Jonatan aufgepasst, als er noch klein war. Kinder waren wie die kleinen Lämmer: unberechenbar. Außerdem: was hatte er davon, wenn zu den Menschen ein „Retter“ kam. Er war ein Hütehund. Aber weil er ein gehorsamer Hütehund war, trottete er hinter Jonatan her, der aufgeregt schon eine ganze Strecke vorausgelaufen war. Wer weiß, dachte Kelbo, vielleicht muss ich ihn ja noch beschützen in dieser seltsamen Nacht.
Es war erstaunlich. Obwohl die Hirten nicht wussten, wo sie das neugeborene Kind und seine Eltern suchen sollten, liefen sie doch zielstrebig zu einer der Höhlen, die als Ställe und Notquartiere dienten. Und richtig, da waren ein Mann und eine Frau, und diese hielt in ihren Händen ein neugeborenes Kind. In der Stallhöhle waren noch andere Tiere, alle waren merkwürdig bewegt, das spürte Kelbo. Nicht nur die Menschen, nein, auch die Tiere. Obwohl doch die meisten von ihnen schon viele Neugeborene gesehen hatten: Menschenjunge, Kälbchen, Lämmer, junge Hunde und Katzen. Das war nichts Besonderes. Und wie Jonatan vor dem Kind auf die Knie ging. Kelbo knurrte, er schnappte nach einem Schaf, dass sich neugierig vordrängte, er war unsicher, was das alles bedeutete. Ein Kind, das der Heiland sein sollte, Menschen und Tiere, die andächtig und schweigend vor ihm knien. Das war nichts für ihn. Lieber wollte er mit Wölfen kämpfen als hier zu sein. Er wollte umdrehen und gehen, aber es gelang ihm nicht. Es war ihm, als zöge eine unsichtbare Macht seinen Blick auf dieses Kind. Und dabei überkam ihn eine Freude, wie er so nicht erlebt hatte. Er hätte laut bellen mögen vor Glück, aber er wusste nicht warum, außerdem hätte es das Kind wohl zu sehr erschreckt. Menschen erschrecken ja leicht einmal, wenn ein großer Hund zu bellen anfängt. Selbst, wenn er aus Freude bellt.
Aber nicht nur Kelbo war zum Singen zu Mute. Auch die Hirten, allen voran Jonatan, fingen an zu singen und zu tanzen, als sie sich auf den Weg zurück zu der Herde machten. Die harten Hirten sangen wahrhaftig. Sie sangen und tanzten und konnten gar nicht mehr aufhören. Und Kelbo sang und sprang mit. Dieses Kind, das hatte sein Hundeherz begriffen, war kein gewöhnliches Kind. Wer es anschaute, der verlor seine Angst. Obwohl doch sonst Hunde Kinder beschützen, hier war es anders. Wo das Kind war, da war ein Friede, der selbst einen mürrischen palästinischen Hütehund zum Singen und Tanzen brachte. Und wenn das so war: dann musste es wirklich der Retter sein. Der Retter, das lernen wir von Kelbo, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Tiere. Auch ihnen gilt die Weihnachtsbotschaft. Im Römerbrief schreibt der Apostel Paulus, dass alles, was lebt, darauf wartet, dass Gottes Herrschaft sichtbar wird. „Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit und teilhaben an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Römer 8,21). Und so hat auch Kelbo Grund, sich mitzufreuen, wenn wir an Weihnachten singen: „Fröhlich soll mein Herze springen, dieser Zeit, da vor Freud, alle Engel singen …“ *
Zu den Bildern: Sie sind Details aus den Wandgemälden in der Kapelle bei den Hirtenfeldern in Bethlehem, die 1953/54 errichtet wurde. Die Geschichte entstand vor meinen Augen, als ich mich in die verschiedenen Gesichtsausdrücke des Hundes auf den Bildern vertiefte.
Roland Deines
* Wer das Lied sucht: Evangelisches Gesangbuch Nr. 36. Wer Hilfe beim Singen braucht: www.eingesungen.de – da bekommt man von allen Gesangbuchliedern die erste Strophe vorgesungen!